Die systemische Perspektive hat sich als bedeutsamer Ansatz in der frühpädagogischen Arbeit etabliert. Sie basiert auf der Grundannahme, dass menschliches Verhalten und Erleben nicht isoliert, sondern im Kontext sozialer Systeme verstanden werden muss (Simon, 2006). In Kindertageseinrichtungen (Kitas) eröffnet dieser Ansatz neue Zugänge zum Verstehen und Gestalten pädagogischer Beziehungen und zur Zusammenarbeit mit Familien.
1. Systemisches Denken: Grundlagen
Die Wurzeln der systemischen Theorie reichen in die Kybernetik und die Systemtheorie zurück (vgl. Luhmann, 1984; von Foerster, 1985). Der Mensch wird als Teil verschiedener sozialer Systeme (z. B. Familie, Bildungseinrichtung, Peergroup) gesehen, die durch Kommunikation miteinander verknüpft sind. In diesem Sinne ist auch die Kita als ein soziales System zu verstehen, das vielfältigen Wechselwirkungen unterliegt.
Systemisches Denken betont insbesondere die Zirkularität von Wirkungszusammenhängen. Anstelle linearer Ursache-Wirkung-Beziehungen wird das Augenmerk auf Rückkopplungsschleifen gelegt – also darauf, wie Handlungen wechselseitig aufeinander einwirken (Schlippe & Schweitzer, 2019). In der pädagogischen Praxis bedeutet dies, kindliches Verhalten nicht isoliert, sondern in seinem systemischen Zusammenhang zu betrachten – etwa im Hinblick auf familiäre Muster, institutionelle Rahmenbedingungen oder gruppendynamische Prozesse.
2. Systemische Haltung in der Kita
Die systemische Haltung ist geprägt von Wertschätzung, Ressourcenorientierung und Lösungsfokussierung. Diese Haltung beeinflusst maßgeblich das professionelle Selbstverständnis von Pädagog*innen. Sie verstehen sich nicht als „Reparaturinstanz“ für defizitäres Verhalten, sondern als Begleiter*innen von Entwicklungsprozessen, die individuelle Lebensrealitäten anerkennen und einbeziehen (vgl. Thomann & Schulz von Thun, 2020).
Besonders in der inklusiven und diversitätssensiblen Pädagogik bietet die systemische Sichtweise eine hilfreiche Perspektive, um die Unterschiedlichkeit von Kindern und ihren Lebenswelten anzuerkennen, ohne sie zu pathologisieren (vgl. Dannenbeck & Kruschel, 2014).
3. Zusammenarbeit mit Familien
Ein zentrales Anwendungsfeld systemischer Arbeit in der Kita ist die Elternarbeit. Im Sinne einer kooperativen Erziehungspartnerschaft (Viernickel & Völkel, 2012) werden Eltern als Expert*innen für ihr Kind ernst genommen. Systemische Methoden wie zirkuläres Fragen oder Genogrammarbeit können helfen, Familienstrukturen und -dynamiken zu verstehen und tragfähige Lösungswege zu entwickeln (vgl. Schlippe & Schweitzer, 2019).
Gerade in herausfordernden Situationen – etwa bei Verhaltensauffälligkeiten oder Kindeswohlgefährdung – bietet der systemische Ansatz die Möglichkeit, nicht nach Schuldigen zu suchen, sondern systemische Bedingungen zu reflektieren und Ressourcen zu mobilisieren.
4. Teamprozesse und institutionelle Rahmenbedingungen
Auch das Kita-Team ist ein soziales System, in dem systemische Prinzipien fruchtbar gemacht werden können. Die Reflexion der eigenen Rolle, kollegiale Fallbesprechungen und Supervisionen können helfen, Dynamiken im Team transparent zu machen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten (vgl. Müller, 2018).
Allerdings darf die systemische Arbeit nicht allein auf die Mikroebene reduziert werden. Strukturelle Bedingungen – etwa Fachkräftemangel, institutionelle Vorgaben oder gesellschaftliche Erwartungen – wirken ebenfalls systemisch auf die Arbeit in Kitas ein. Hier ist eine organisationale Systemperspektive notwendig, die Leitungskräfte und Träger in die Verantwortung nimmt (vgl. Arnold, 2012).
Fazit
Systemische Arbeit in der Kita ist mehr als eine Methode – sie ist eine Haltung und ein Denkmodell, das Kinder, Familien und Fachkräfte als Teil dynamischer Systeme begreift. Sie fördert professionelle Reflexion, stärkt Beziehungen und eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten. Damit leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Qualität frühkindlicher Bildung.
Literaturverzeichnis
Arnold, R. (2012). Wie man lehrt, ohne zu belehren. Die Kunst, lehrreich zu sein. Heidelberg: Carl-Auer.
Dannenbeck, C., & Kruschel, K. (2014). Inklusive Pädagogik und systemisches Denken. In: Zeitschrift für Inklusion, 3(14).
Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Müller, H. (2018). Teamentwicklung in Kitas: Systemisch gedacht – praktisch gestaltet. Freiburg: Herder.
Schlippe, A. v., & Schweitzer, J. (2019). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I: Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Simon, F. B. (2006). Einführung in die systemische Psychologie. Heidelberg: Carl-Auer.
Thomann, C., & Schulz von Thun, F. (2020). Klärungshilfe 4: Systemisches Denken und Handeln in der Kommunikation. Reinbek: Rowohlt.
Viernickel, S., & Völkel, P. (2012). Ko-Konstruktion und Partizipation: Eltern als Bildungspartner in der Kita. Berlin: Cornelsen Scriptor.
von Foerster, H. (1985). Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.